General-Anzeiger Bonn, 26.04.2005

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Soll Deutschland vom PISA-Sieger Japan lernen?

BILDUNG Das Bild vom „Drill“ ist ein Vorurteil
Von Uschi Heidel

Schüler in Reih und Glied, starre Gesichter, mechanisch wirkende Gesten: Die gängigen Bilder von Japans „Drillschule“ halten sich hartnäckig. Dass sich das fernöstliche Bildungssystem nicht auf Klischees reduzieren lässt, sondern Anregungen für die deutsche Bildungsmisere liefern kann, mag erstaunen. Einen Blick hinter die Vorurteile werfen Bildungsforscher wie Botho von Kopp und sein japanischer Kollege Professor Takekazu Ehara.

Auf einem Symposium in Bonn über deutsch-japanische Wissenschaftskooperation fragten sie: „Was kann Deutschland vom PISA-Sieger Japan lernen?“ Eingeladen hatte die Japan Society for the Promotion of Science (JSPS). Die größte japanische Wissenschaftsförderorganisation betreibt eine europäische Zweigstelle im Wissenschaftszentrum. Anlass der Tagung war das zehnjährige Bestehen der Deutschen Gesellschaft der JSPS-Stipendiaten.

In der internationalen PISA-Studie erhielten Nippons Schiller Topnoten in Mathematik und Naturwissenschaften, bei der Lesekompetenz erreichten sie Rang acht. Deutschland musste sich mit den Rängen 21 und 22 zufriedengeben. „Eigentlich sollte die gute Position Japans nicht überraschen“, sagt von Kopp, der am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt arbeitet. Seit Ende der 60er Jahre zeigten sich solche Resultate, aber erst PISA habe die Deutschen in der Vorstellung erschüttert, ihre Schulen seien die Besten.

Wer sich dem komplexen japanischen Bildungssystem nähere, so von Kopp, merke rasch, dass Klischees nicht greifen. So wurde für PISA Mathematik-Unterricht in den USA, Japan und Deutschland verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass gerade japanische Mathelehrer ihre Stunden sehr anschaulich und stark problemorientiert gestalten. Unterricht jenseits von jeglichem „Drill“ erfolgt auch in der Vor schule und den untersten Klassen, stark an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. „Sicherlich gibt es in der japanischen Schule Momente, wo Drill zur Anwendung kommt, vor allem bei den Übergängen zu anderen Bildungsinstitutionen beispielsweise zur Hochschule, aber Drill bestimmt nicht die gesamte Didaktik“, betont der Frankfurter Forscher.

Gleichwohl gibt es in Japan Pädagogen und Erziehungswissenschaftler, die ihre Schüler unter zu viel Stress sehen und für  „deutsche“ Elemente in die Didaktik plädieren: „Das deutsche System ist sehr gut“, findet Takekazu Ehara von der Graduate School of Education der Universität Kyoto. „Es ist flexibler als das japanische und unterstützt den Schüler mehr in der Entwicklung seiner Individualität.“ Er hofft, dass sich die Systeme annähern – „Japan ein bisschen mehr an Deutschland“.

Lernen von Japan? „Grundsätzlich ja“, sagt von Kopp, „aber Lernen ist hier nicht kopieren, sondern erfordert die Analyse der eigenen Prinzipien, Stärken und Schwächen“. Was Japans Schulen leisten, sei durchaus bedenkenswert: Schulen und Lehrer fühlen sich für ihre Schüler verantwortlich, kennen deren soziale Hintergründe und halten Kontakt zu den Eltern. Der ganztägige Schulbetrieb fördert dies und stärkt das Gemeinschaftsgefühl.

Der Stellenwert der Schulen ist in Japan deutlich höher als in Deutschland. Sie zeigen mehr Bewusstsein für Wettbewerb und Leistung und bereiten damit ihre Schüler besser für den globalen Arbeitsmarkt vor als hierzulande. In diesem Bereich wünscht sich Kopp deutlichere Anreize in deutschen Schulen. Dazu gehöre die gemeinschaftliche Förderung aller Schüler, nicht nur der Begabten. Im japanischen Schulsystem, das sich erst sehr spät in verschiedene Schultypen gliedert, besuchen 94 Prozent aller Jugendlichen die Oberschule. Weit über die Hälfte eines Jahrgangs geht anschließend an die Universität oder ähnliche Einrichtungen.